Blick ins Fotoalbum mit Johannes Gstöttenmayer: Warum man ein Bild mehr als 10 Sekunden anschauen sollte

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Beim Blättern im Fotoalbum kommt die Erinnerung fast von selbst. „Schau, da waren wir im Urlaub in Lignano.“ „Und da, schau, da war unsere Cousine Karin auf Besuch.“ „Oder dieses Foto: Das war vor dem Unfall vom Opa, da sieht man noch keine Narbe.“ Wer also übers Leben schreiben möchte kann mit Hilfe der Fotos viele Erinnerungen aus der Tiefe des Bewusstseins holen. Obwohl ich dabei oft nicht mehr weiß, erinnere ich mich wirklich an die Situation oder habe ich nur die Erzählungen meiner Eltern im Ohr, die zu einem bestimmten Foto jedes Mal sagten: „Da schau, so hast du immer mit deiner Taufpatin telefoniert.“

 Fotos erzählen Geschichten – über die eigene Familie, aber auch über ganz fremde Menschen, Situationen, Landschaften, Gebäude. Johannes Gstöttenmayer, Fotograf und Obmann des Vereins „Geschichte teilen“, sammelt diese alten Bilder und Geschichten. 20.000 Fotos hat er bereits digitalisiert und mit Schlagworten versehen. In seinem Bilder-Archiv in der Humboldtstraße in Linz hat er mir einige seiner Schätze gezeigt und meine Fragen beantwortet. Er weiß nämlich auch, wie man Fotos am besten aufbewahrt und was ein richtig gutes Bild ausmacht.

Woher bekommst du die alten Fotos?

Ich kaufe sie auf dem Flohmarkt oder bei Händlern, oder ich bekomme Schenkungen von Privatpersonen. Vieles läuft jetzt auch über Social Media. 

Wie gehst du vor, wenn du die alten Fotos bekommst?

Zuerst werden sie gesichtet, dann verarbeitet. Die besten scanne ich ein. Manchmal bin ich auch in Familien mit Scanner und Laptop unterwegs. Es ist spannend, welche Familiengeschichten einem da aufgetischt werden. Viele wissen gar nicht, welche Schätze sie besitzen.

Welche Fotos sind besonders wertvoll?

Aufnahmen, die vor dem Ersten Weltkrieg entstanden sind. Je älter die Fotos, umso besser. Die Bilder haben eine sehr gute Qualität, sind gestochen scharf. Das liegt am guten handwerklichen Können zu dieser Zeit.

Was war das wertvollste Foto, das du bekommen hast?

Das war ein Zufallskauf, eine Schachtel voll Negative mit Flugzeugfotos aus Linz in den 1920er Jahren und mit einer Aufnahme von Kaiser Karl beim Truppenbesuch an der Isonzofront.

Woran erkennst du, wie und wo das Bild entstanden ist?

Da ist historisches Wissen gefragt. Im Ersten Weltkrieg waren die Fotos inszeniert, die Leute wirkten steif, die Belichtungszeit war lang. Im Zweiten Weltkrieg gab es schon mehr Reportage-Fotografie.

Was interessiert dich an den alten Aufnahmen, die gar nichts mit deinem Leben zu tun haben?

Ich interessiere mich für die Zusammenhänge. In welcher sozialen Schicht lebten die Menschen, waren sie arm oder reich. Das macht mich neugierig. Anhand der Haltung kann man Aussagen über die Person machen. Die Fotos erzählen eine Geschichte, zum Beispiel ein Schulfoto: Man sieht, wenn die Kinder strahlen, und sich wohlfühlen. Oder wenn sie eingeschüchtert waren. War ein Pfarrer oder eine Lehrerin mit auf dem Bild? Das alles gibt Aufschluss über die Geschichte dahinter.

Linz, Mitte der 1920er Jahre: Eine wunderschöne Aufnahme der Wienerstraße mit der Herz-Jesu-Kirche. Johannes freut sich übrigens auch über eure Fotos und Ansichtskarten

Was macht ein Foto zu einem wirklich guten Bild, dass du aufbewahren möchtest?

Wenn es topographisch interessant ist, also weiße Flecken in meinem Bildgedächtnis übermalt. Straßen wurden in Linz zum Beispiel sehr selten fotografiert, das sind wertvolle Bilder. Außerdem interessiert mich soziale Fotografie, also Bauern, Handwerker, Gastronomie. Wie wurde das Bild inszeniert? Oder wenn an Orten fotografiert wurde, an denen das normalerweise nicht üblich war – in privaten Küchen zum Beispiel. Das ist spannend. Interessant finde ich auch technische Geräte oder Aufnahmen aus dem Krieg – das weckt in mir den Forschergeist und es ergeben sich viele Fragen. Und ich mag Familienfotos, weil sie eine klare Aussage haben. Der Fotograf war früher eine Respektperson.

Du hast auch ganze Alben in deinem Archiv – was kannst du damit anfangen?

Das ist etwas ganz Besonderes, weil ein Album oft das ganze Leben eines Menschen dokumentiert. Es erzählt eine Geschichte über die Person, die vielleicht schon vergessen ist. Indem man sich damit beschäftigt, wird das Leben posthum gewürdigt. In diesem Archiv sind viele schwere Schicksale gesammelt, das bedeutet Last und Verantwortung. Ich überlege mir auch, was die Leute gedacht haben und ob sie heute stolz wären, wenn sie wüssten, dass ihre Fotos gefunden wurden. Ich mache mir viele Gedanken dazu und gehe in jedem Fall sehr sorgsam mit den Bildern um.

Bitte keine Fotos wegschmeissen!

Wir freuen uns über alte Fotos auch wenn sie für dich manchmal unbrauchbar erscheinen! 

fotoarchiv@geschichteteilen.at

Tipps für die richtige Aufbewahrung von Fotos

Es können aber nicht alle Bilder eine Geschichte erzählen. Woran merkst du, dass da mehr ist?

Wenn ich es länger als zehn Sekunden anschaue, dann fesselt mich irgendwas in dem Bild. Dann blickt man in die Seele der Menschen. Fotografie ist wirklich eine intensive Geschichte. Früher nahm man sich auch viel Zeit für Fotos, das ist in Zeiten der Digitalfotografie kaum mehr vorstellbar. Es geht alles schneller und wird dadurch viel oberflächlicher.

Welche Archivierungs-Tipps hast du, um Fotos langfristig zu erhalten?

Auf keinen Fall mit Kleber einpicken, weil dieser die Fotos mit der Zeit auflöst. Früher verwendete man Leim, das war besser. Heute eignen sich auch Fotoecken. Einzelne Fotos packt man am besten in Hüllen aus Pergamin, das ist säurefreies Papier. Wenn möglich, sollte man die Bilder auch digitalisieren, richtig beschriften und aus den besten Fotobücher machen.

Was braucht ein „Foto für die Ewigkeit“, das auch in 100 Jahren noch eine spannende Geschichte erzählt?

Oft werden nur Personen fotografiert, das Rundherum ist aber genauso wichtig, um zu zeigen, wie die Menschen gelebt haben. Es sollten also auch Orte, Gegenstände, Fahrzeuge etc. auf dem Bild zu sehen sein.

Was machst du mit den alten Fotos, abgesehen vom Sammeln?

Ich lasse sie als Ansichtkarten drucken oder auf Geschenkpapier. Auch Kalender habe ich mit den alten Fotos gestaltet. Man kann sie als Symbolbilder verwenden, wenn keine eigenen da sind. Ich habe einfach den Wunsch, aus den Fotos wieder Geschichten zu machen.

Foto eines unbekannten Mädchen in Linz 1942 oder 1943. Das ist in der  Scharitzerstraße – nahe der Humboldtstraße. Der Garten musste einem Haus weichen!

Das Foto war ein Flohmarktfund. Ich habe um 5 Euro ein Fotoallbum gekauft, auf das mich meine Frau aufmerksam gemacht hat. Ein Kinderalbum, auf den ersten Blick nichts besonderes. Zu Hause beim Kaffee blätterte ich durch und die Überraschung war groß. Die Häuser und die abgebildete Umgebung waren mir so gut bekannt. Es waren die Nachbarhäuser – Luftlinie 50 Meter. Ich kann diesen Ort von meinem Schlafzimmerfenster aus sehen …

Schreibidee süß-sauer

Nehmt ein altes Bild aus dem Album, betrachtet es länger als zehn Sekunden, und erzählt dann die Geschichte dazu. Verwendet dafür die Technik des Automatischen Schreibens – also zehn Minuten lang durchschreiben, ohne Pause, einfach alles aufschreiben, was euch zu dem Bild einfällt. Viel Spaß beim Schreiben und Geschichten erfinden!

Mehr über mich, meine Leben und meinen Werdegang findet ihr hier!

Ich bin aber auch sehr neugierig. Was fasziniert euch am Schreiben? Habt ihr das biografische Schreiben schon ausprobiert? Was sind die süß-sauren Momente in eurem Leben? Und wer weiß ein gutes Rezept für Ribiselkuchen? 😉

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Hannes

    Danke Vielmals
    Ich bin begeistert!
    Du bist eine Meisterin deines Fachs!

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